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Oft wurde ihr vorgeworfen, ihr Gesang bestehe nur aus Seufzen, Hauchen und Flüstern. Wahrscheinlich ist die 22-Jährige gerade aufgrund dieser Fähigkeit, ihre Verse nicht zu singen, sondern engelsgleich in den Äther strömen zu lassen, zum Popstar der Cineasten avanciert. Zwei Meilensteine der jüngeren Filmgeschichte prägte Billie Eilish, der jüngste Star, der je zwei Oscars gewann, entscheidend mit: Mit „No Time To Die“ und „What Was I Made For“ gelang es der Gen-Z-Ikone, sowohl Bond als auch Barbie einen neuen Anstrich zu verpassen. Billie-Blue.
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Ihr erstes Album „When We All Fall Asleep, Where Do We Go?“ bescherte der damals erst 17-Jährigen fünf Grammys. Der Billie-Bass eroberte die Welt. Das zweite, weniger erfolgreiche Album „Happier Than Ever“, das mit einem Image-Wandel zum blonden Marilyn-Monroe-Zitat in Erotikdessous einherging, bezeichnete ihr Bruder Finneas im aktuellen „Rolling Stone“-Magazin als „Bewältigungsmechanismus“. Was hält das dritte Album für uns bereit?
Keines der zehn Lieder von „Hit Me Hard And Soft“ war vorher einzeln zu hören. Im „Rolling Stone“-Interview offenbarte die Musikerin ihre Abneigung gegenüber Singles. Das große Ganze, der Kontext, die Familie sei ihr wichtig. So wie ihre Musik eben auch ein Familienprodukt ist. Eilish wohnt noch bei ihren Eltern. Sie ist nie zur Schule gegangen, sondern wurde gemeinsam mit ihrem vier Jahre älteren Bruder Finneas O’Connell zu Hause unterrichtet. Noch heute schreibt das Geschwisterduo alle Songs gemeinsam. Die 2021 erschienene Apple TV+-Doku „The World’s A Little Blurry“ gewährte einen faszinierenden Einblick in das Selbstmanagement der Familie, die zwei der größten Popstars unserer Zeit hervorbrachte.
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Daher lohnt es sich, die Lieder des neuen Albums chronologisch durchzugehen, in der Abfolge, die die Geschwister für sie auserkoren haben. „Skinny“ erzählt von Internethass und Erwartungsdruck, von den Krisen des Erwachsenwerdens, die für das Ausnahmetalent mit dem Navigieren durch die Welt der Stars und Sternchen zusammenfallen. „Einundzwanzig hat ein ganzes Leben gedauert“, heißt es da. Auch das Unbehagen an Körpernormen, das man von Billie Eilish seit Beginn ihrer Karriere kennt, die sie in Baggy-Jeans, Oversize-Hoodies und blauen Haaren bestritt, kommt hier zum Ausdruck: „Die Leute sagen, ich sähe glücklich aus, nur, weil ich dünn geworden bin. Und ich weine immer noch, und du weißt, warum“.
Das Hadern mit einem Leben in der Schaufensterauslage manifestiert sich in bekannten Metaphern vom „Vogel im Käfig“ und „Hund im Zwinger“, in die sie sich verwandele, wenn sie von der Bühne abtrete. Im „Rolling Stone“-Interview gesteht Eilish, nie wirklich eine glückliche Person gewesen zu sein. „Ich bin ein fröhlicher, aber kein glücklicher Mensch.“
Kannibalistische Hymne
Doch dann löst sich die Kombination aus wehmütiger Akustikgitarre und klagendem Streichquartett jenes an „Barbie“ erinnernden Einstimmungszweifels im nächsten Lied in energischere Melodien auf. „Lunch“ wird, so viel kann man schon mal versprechen, der Sommerhit 2024, also der Song, zu dem angetrunkene Teenager am Badestrand im Bikini tanzen und zu dem sich Rentner beim Champagner-Dinner mit den Nachbarn im Eigenheim-Garten zuprosten werden. Der Song, der die Supermärkte, Clubs und Autobahnen mit einem rhythmischen Bass erfüllen wird, und der Song, der wohl Billie Eilishs erstem großem Hit „Bad Guy“ am nächsten kommt.
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Hier besingt Eilish nach ihrem vor wenigen Monaten erfolgten halben Coming-out im „Variety“-Magazin und später auf dem roten Teppich ihre Liebe zu einer Frau mit kannibalistischen Anspielungen: „Ich könnte dieses Mädchen zu Mittag essen. Yeah, sie tanzt auf meiner Zunge. Schmeckt, als wäre sie die Richtige.“ Liebe entblößt sich hier als Begehren, das einem Heißhunger gleichkommt.
„Chihiro“ betrauert eine verlorene Liebe, „Birds of Feather“ erklärt die Liebe bis zum Tod, „Wildflower“ verarbeitet die Ex-Beziehung eines Partners. „Birds of Feather“ und „Wildflower“ gehören zu den gewöhnlicheren Songs des Albums. In anderen Worten: Hier haucht Eilish nicht, sondern sie singt. Swifties dürften ihren Gefallen daran finden.
„The Greatest“ und „L’Amour de ma vie“ – beides zwischen Trauer und erhebendem Neuanfang changierende Trennungssongs – enthalten ähnlich spektakuläre Brücken, wie sie Eilish schon in „Happier Than Ever“ auf ihrem letzten Album gelungen sind. „L’Amour“ wirkt stark elektronisch aufgerüstet. Ebenso die sphärischen Sounds in „The Diner“ und „Bittersuite“, die jeweils wie fünf Lieder in einem wirken und oft übergangslos das Vorhergegangene kontrastieren. Nicht selten finden sich die Extreme, das „Weiche“ und das „Harte“, die der Albumtitel ankündigt, innerhalb ein und desselben Songs.
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„Ich versuche in Schwarz und Weiß zu leben, aber ich bin so blau“, heißt es im Abschlussstück „Blue“, das an einigen seiner ruhigeren Stellen an Lana Del Rey erinnert. Hier greift Eilish Bilder aus den anderen Songs wieder auf und kontextualisiert sie neu. Das Bekenntnis zum Blau spielt auf die Haarfarbe an, mit der Eilish als Teenager berühmt wurde. Es ist aber auch die Farbe des Wassers, das auf dem Cover des neuen Albums zu sehen ist. Eilishs Körper schwebt darin. Sie ist nicht die kalkulierte Erfolgsmaschine, die die Bühne betritt und sagt: Hier bin ich und ich leiste. Sie ist eher der Typ, der sich rückwärts ins Wasser fallen lässt und dann noch in der abgründigsten Tiefe ihre Gefühle in das sie umgebende Blau hinein blubbert.
Blau leuchtet auch das Licht der Smartphones, die uns wach halten, sodass das lyrische Ich über nur drei Stunden Schlaf pro Nacht klagt. Es ist ein schlafloses Album, das Eilish vorlegt. Umgekehrt könnte man sagen: ein waches. „Du wurdest geboren, nach den Händen deiner Mutter greifend, Opfer der Pläne deines Vaters, die Welt zu beherrschen“, heißt es in „Blue“. Handfeste Politik klingt in diesen Versen ebenso mit wie die menschlichen Tragödien, die uns seit der Antike nicht loslassen.
Eilish kann Bond und Barbie, Fortnite und Instagram. Sie transzendiert Geschlechter und Genres. Ihre Lyrik, die auf den ersten Blick nach einem Potpourri aus Teenie-Ängsten und Zeitgeist-Diagnosen wie Depression, Dysmorphophobie und Queerness aussehen mag, funktioniert als Ventil für größere existenzielle Dilemmata: Wer bin ich? Wofür bin ich auf der Welt? Was soll ich fühlen?
Dass „Lunch“ zweifellos der beste Song des neuen Albums ist, verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass die Sängerin im „Rolling Stone“-Interview Sex als ihr Lieblingsthema anpries. „Dieser Scheiß kann dich manchmal wirklich, wirklich retten. Ich kann es nur empfehlen.“ Eilishs neues Album auch.